Es war ein verregneter Abend in Washington DC. Die Wolken hingen bleiern über den Dächern der Stadt und die Pfützen auf dem Asphalt spiegelten schimmernd die Lichter der Straßenlaternen wieder. Eine triste, beinahe gespenstige Atmosphäre breitete sich aus und nahm auch von Natasha Grands Besitz. Die sonst so lebhafte junge Frau lief langsam durch die Straßen der Stadt.

 

Gedankenverloren. Die Blicke der fremden Menschen, die ihr verwundert hinterher sahen, nahm sie nicht wahr. Der Regen, der sie in der Zwischenzeit vollkommen durchnässt hatte, war kaum mehr spürbar. Die Kälte hatte ihren Körper gefangen genommen.

 

Noch immer presste sie den Blumenstrauß gegen ihre Brust, rücksichtslos drückte sie die Blüten gegen ihren schwarzen Mantel. Sie wollte den Schmerz vergessen, das dumpfe Gefühl loswerden, welches sich in ihr ungerührt entfaltete. Es tat so weh.

 

Mit zitternden Knien ließ sie sich auf den Stufen der kleinen Kapelle nieder und ließ den Tränen ihren Lauf. Sie musste erst Kraft sammeln, bevor sie diesen schwierigen Weg gehen konnte. Minuten vergingen, Stunden. Die Abenddämmerung war tiefer Dunkelheit gewichen, doch noch immer tropfte der Regen auf die Erde nieder und mischte sich mit den Tränen auf ihrer Wange. Natasha hob den Kopf und ließ die Tropfen auf ihr Gesicht niederprasseln, sie atmete tief durch und stand auf. Es war der Moment gekommen.

 

Sie kannte den Weg, den sie jetzt ging. Selbst im Dunkeln fühlte sie sich sicher. Der Kies unter ihren Schuhen knirschte, bekannte beruhigende Geräusche, die sie leise hörte und sich behutsam um ihre Seele legten. Und doch war es heute anders. Heute war es besonders. Heute war der Tag.

 

Natasha kniete sich auf die kleine Stufe des Grabes nieder und senkte den Kopf. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich zu erinnern. Zurück zu denken an die vergangen glücklichen Momente, ihre Eltern wieder mit großen, kindlichen Augen zu beobachten und sich den allzu bekannten Duft des Parfüms ihrer Mutter ins Gedächtnis zu rufen. Einzuatmen. Erinnerungen aufleben zu lassen und den geliebten Menschen zu gedenken.

 

Der Schatten hatte sich auf ihr Leben gelegt, unaufhaltsam, rücksichtslos. Zurück blieben nur die Erinnerungen und der Schmerz.

 

Schweren Herzes löste sie den Blumenstrauß aus ihrer festen Umarmung und blickte auf die rosa Blüte, die ihre Leuchtkraft in der tiefen Dunkelheit noch immer entfaltete. Deswegen war sie heute hier, wie jedes Jahr, um den Schatten, die Blüte der schönen Erinnerungen zu überbringen.

 

*****

 

Vor vielen Jahren betrat eine Frau mit hoher, ebenmäßiger Stirn und langen, glatten Haaren das Zimmer ihrer Tochter. Sie liebte jene Augenblicke. Sie liebte es, ihre Tochter in Momenten zu betrachten, in denen diese dachte, sie sei unbeobachtet. Sie liebte ihre Tochter.

 

Ein sanftes Lächeln huschte über das Gesicht der Frau, die sich unbemerkt rücklings gegen die Tür lehnte, nur um den Augenblick noch ein wenig länger genießen zu können. Ihre Hände verschränkte sie vor ihrem Körper. Sie hatten es eigentlich eilig, doch ihren Blick konnte sie nicht durchbrechen. Mrs. Grand sah ihrer Tochter zu. Sah, wie diese ihre kleinen schwarzen Lackschuhe anzog und sich mit ihrem beigefarbenen Kleidchen vor dem Wandspiegel drehte.

„Du siehst hübsch aus, mein Liebling“ Ein stolzes Lächeln legte sich über das Gesicht der jungen Mutter und brachten ihre kleinen Lachfältchen zum Vorschein.

 

Das Mädchen drehte sich um, als es die warme, wohlklingende Stimme ihrer Mutter erkannte. Und die Frau bemerkte sofort das sorglose, erfreute Leuchten in den Augen des Kindes, als dieses schnellen Schrittes auf sie zulief und in ihre beschützenden Arme fiel.

 

*****

 

In der Vase auf dem Küchentisch prahlten die rosa Blüten. Ein bekanntes Bild, die Lieblingsblumen seiner Frau. Lächelnd sah er auf, als er die alltägliche Vibration des Tisches spürte, die jedes Mal in Gang kam, wenn seine Tochter über die Holzdielen des Zimmers flitzte.

 

Gewohnt griff er zur Vase, um diese vor dem drohenden Fall zu schützen. „Natasha“ knurrte er spielerisch mit tiefer Stimme. „Langsam mein Kind.“

 

Professor Grand war stolz auf seine aufgeweckte Tochter, ihre schwarzen Haare, die sie eindeutig von ihrer Mutter, seiner wunderschönen Frau hatte, umrundete das liebliche, kindliche Gesicht und unterstrich das fröhliche Funkeln in den dunklen Augen.

 

„Nicht arbeiten, Daddy. Wir müssen los.“ Mit Anlauf sprang das Kind auf den Schoß des Vaters und kuschelte sich an den Bart des Mannes. Seufzend schob der Mann seine Unterlagen zur Seite und legte die Lesebrille auf den Tisch. Wenn seine Tochter drängelte, gab es kein Entkommen mehr. Er schloss die arme um das Kind und strich zärtlich über ihr Haar.

 

*****

 

Jener letzte Tag, er lag in bruchstückhaften Erinnerungen tief im Innern von Natasha Grand. Vollkommen aus dem Kontext und Zusammenhang gerissen. Einzelne Bilder, die sie nicht zusammenfügen konnte. Nie. Trotz vieler zahlreicher Versuche. Gescheitert. Vergessen.

 

Sie sah ihre Mutter, im Türrahmen, hörte die wiederhallenden Worte. Sie sah ihren Vater, am Tisch, hörte seine tiefe Stimme und spürte seinen kratzigen Bart. Sie roch die Blumen auf dem Tisch, fühlte das familiäre, beschützte Wohlsein, die Verbindung zwischen ihr und ihren Eltern.

 

Und dann verblassten die Gesichter, verschwamm das Gefühl, verflog der Geruch des Glücks und der drohende Groll legte sich über die Erinnerungen.

 

Das Bild des zerstörten Wagens, die lauten Sirenen, die blendenden Lichter. In Zeitlupe zogen Männer an ihr vorbei, rissen an ihren Armen, zogen und schrien. Und auch sie schrie, doch niemand wollte ihr helfen. Sie schrie nach ihrer Mama, doch sie erhielt keine Antwort. Sie selbst hörte ihren Schrei nicht, spürte wie ihr Hals angestrengt die Worte ausstieß, doch kein Laut war zu hören. Stille. Innere Stille. Verlassenheit.

 

*****

 

Natasha berührte den Grabstein vor sich und strich mit den Fingern über die eingekerbten Namen. Alles was noch übrig war, Namen auf grauem Marmor. Buchstaben, die größte Bedeutung für sie hatten. Und so wie die Namen in den Stein graviert, so waren sie auch in ihrem Herzen für immer festgeschrieben.

 

Ihre Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit, zurück zu jenem Zeitpunkt, als sie das erste Mal hier stand. Genau an diesem Ort. Die Blicke aller ruhten mitleidig auf ihr. Doch sie erwiderte keinen Blick, sah niemanden an und seit dem Unfall war kein einziges Wort über ihre Lippen gekommen. Sie nahm nicht Teil am Leben, es war, als sei auch sie an diesem Tag gestorben. Die Zeit stand still.

 

Unbewusst hob Natasha ihre Hand zur Schulter und übte sanften Druck aus. Sie schloss die Augen. Sie spürte sie noch immer. Sie spürte die schützende Hand ihrer Großmutter, die damals auf ihrer Schulter ruhte. Ihr einziger Halt, der einzige Mensch, der ihr geblieben war. Damals.

 

Die Großmutter war neben ihr in die Knie gegangen und zog sie näher an sich heran. Der Blick der alten Frau war leer, voller Traurigkeit und doch flimmerte darin ein winziger Funke Hoffnung. Der Wille, dem Kind Kraft zu geben, den schwierigen Weg zu gehen und um ihre Eltern zu trauern. Zu weinen. Sie griff nach der Hand des Kindes, fing mit dem zierlichen Zeigefinger ihrer Enkelin eine Träne auf, die bedächtig über ihre Wange floss und fuhr damit über die bleiche Wange des Kindes. Sei schenkte ihr Tränen. Tränen, die die Kinderseele endlich erlösen sollte. Und während sich die ersten Tränen einen Weg aus den trüben Augen des Mädchens suchten, löste die Frau den Blumenstrauß aus ihrer festen Umarmung.

 

Die rosa Blüten strahlten im Kontrast der schwarzen, stillen Kleidung. Natasha konnte ihren Blick nicht davon lösen und die Augen des Kindes verfolgten gebannt den Weg jeder einzelnen Blume.

„Diese Blüte ist für das strahlende Lächeln deiner Mama.“ Das Kind nahm die erste Blume entgegen und das strahlende Gesicht ihrer Mutter blitzte in ihr auf. „Eine Blüte für die gute Laune deines Papas.“ Erinnerungen an das laute Lachen ihres Vaters erfüllten ihre Gedanken.

„Eine Blüte für die Gute-Nacht-Küsse, eine für den gemeinsamen Ausflug ans Meer. Eine Blume für die Liebe deiner Eltern.“

 

Gemeinsam mit ihrer Großmutter trat Natasha an das Grab ihrer Eltern, legte die Blüten der guten Erinnerungen nieder und mit jeder rosa Blüte verschwand ein Stück des Schattens, den der Unfall wie ein dunkler Nebel über ihre Seele legte.

 

Und so tat sie es auch heute. Alleine. Sie löste die Blumen, legte jede Blüte mit einer schönen Erinnerung auf dem Grabstein nieder, spürte die Bilder und die Emotionen, die durch ihren Körper flammten.

 

Sie würde wiederkommen. Jedes Jahr.