OPERATION MUNICH "VERMISST"



 

.... in Bearbeitung

 


 

kurze Leseprobe:

 

Langsam schlenderte Natasha durch die Straßen der Stadt. Die warme, trockene Sommerluft wehte durch die Äste der Kastanienbäume und kündigte die Abenddämmerung an. Nur wenige kleine Schleierwölkchen hatten sich an diesem sonnigen Tag über den Dächern Münchens offenbart. Doch der wunderschöne Tag näherte sich nun seinem Ende und so ließ auch der Trubel in den Straßen nach. Die Menschen, die sich zuvor in Massen durch die beliebte Einkaufsstraße drängten, verloren sich in den Seitenstraßen und U-Bahneingängen. Langsam kehrte Stille ein und verlieh dem Umfeld einen geisterhaften Schleier. Natasha genoss die Ruhe. Nichtahnend, das dieser Moment ihr Leben für immer veränderte.

 


Elli arbeitete schon sehr lange in der sogenannten Auffanggruppe des Münchner Kinderheims. Die Abende liefen routiniert ab, es herrschte eine wohlige Atmosphäre, trotz der unterschiedlichsten Problematiken und Lebensgeschichten. Die Kinder blieben in der Regel nicht sehr lange, viele mussten zurück zu den Eltern, einige wechselten in eine feste Gruppe. Diese Räumelichkeiten waren nur ein Übergang, aber Elli und ihre Kollegen hatten sich schon vor langer Zeit das Ziel gesetzt, aus der grausamen hoffnungslosen Lage der Kinder das Beste zu machen und knieten sich daher alle in die Arbeit. Statt weißer steriler Wände strahlte dem Besucher ein schönes Sonnengelb entgegen, wenn er die gläserne Eingangstür öffnete. Darüber stand in bunten Buchstaben ‚Herzlich Willkommen‘, ein ernstgemeinter Gruß, denn hier war tatsächlich jedes Kind willkommen. Das gemeinsame Wohnzimmer, der sogenannte Aufenthaltsraum war liebevoll eingerichtet, es war beinahe alles vorhanden, für Jungs wie auch für Mädchen, für Säuglinge bis hin zu 14jährigen Teenagern. Man wusste ja nie, welche Kinder vorübergehend den Schutz der Fürsorge brauchten. Doch neben der ganzen schönen Gestaltung hatten sie in den letzten Jahren auch sehr auf die Sicherheit des Hauses geachtet, hier kam niemand herein, ohne sich vorher anzumelden. Die direkte Tür zur Gruppe hatte eine zusätzliche Sicherung.

 

Wie um Himmelswillen konnte das also geschehen? Elli ließ sie sich mit zitternden Knien in den Schreibtischstuhl sinken und kramte nach dem Papier mit der Telefonnummer. Noch immer schien das Blut in ihren Ohren zu rauschen und auch ihr Atem wollte sich ganz und gar nicht beruhigen. Einatmen, ausatmen. Ihre bebenden Finger machten es ihr aber auch nicht gerade leichter, ihre riesige Tasche zu durchsuchen. Letztendlich verlor sie die Geduld und kippte den gesamten Inhalt auf den Schreibtisch. Als sie den kleinen zusammengefalteten Zettel endlich fand, seufzte sie erleichtert aus, hielt dann aber noch einen Moment inne und lauschte in die Stille.

 

Es war nichts zu hören. Keine Schreie und kein Weinen. Scheinbar hatte sich Alisar nach einer halben Stunde schrecklichster Tränen endlich beruhigt. Was sie von sich selbst nicht unbedingt behaupten konnte, noch immer steckte ihr der Schreck in den Knochen. Zunächst war sie ja nur verwirrt gewesen, als sie ihren letzten Rundgang durch die Zimmer gemacht hatte und dann am Ende den Teddybär in der Mitte des Wohnzimmers sitzen sah. Verwirrt deswegen, weil sie zuvor alles Spielzeug zur Seite geräumt hatte. An sich selbst zweifelnd und etwas verwundert war sie näher getreten, als sie die leisen tapsenden Schritte Alisars am Ende des Flurs hörte, die schnell näher kamen. Sie hatte sich umgedreht, das wusste sie noch ganz genau, und sich aus ihren Gedanken gerissen, um dem Mädchen entgegen gesehen. Zu niedlich. Das Kind steckte in einem etwas zu großen, dafür aber grünen Schlafanzug, geziert mit kleinen bunten Luftballons. Barfuß. Nach dem Duschen kringelten sich die braunen Haare ein wenig und fielen ihr zerzaust auf die Schultern. Wirklich niedlich. Doch der Gesichtsausdruck des Mädchens jagte Elli noch immer kalte Schauer über den Rücken. Ein kurzes Lächeln, ja sie hatte gelächtet, so als freue sie sich über das Wiedersehen mit einem geliebten Kuscheltier, ein glückliches Lächeln, dass im selben Moment erstarrte und wie eine Maske in ihrem zierlichen Gesicht verharrte, ein Gesicht, das nicht weiter dazu fähig war, sich zu verändern. Dann der Schrei. Dieser schrille, ängstliche Schrei, der herzzerreißende Ruf nach ihrer Mama. Die Panik in den Augen.

 

Elli schüttelte den Kopf um die Bilder endgültig los zu werden. Neben ihren Fingern und Knien begannen nur auch ihre Lippen zu bibbern. Und merkwürdigerweise fror sie, obwohl sich in ihrem Büro die Hitze des Sommers staute. Wie konnte das geschehen? Wie konnte jemand hier reinkommen und ungesehen wieder verschwinden? War derjenige wirklich wieder verschwunden oder immer noch hier? Und war Alisar in Gefahr?

 

„Hauptkommissar Steinberger?“ Elli versuchte sich zu konzentrieren, vor lauter Überlegungen hatte sie jetzt doch tatsächlich nicht mitbekommen, wer sich am anderen Ende der Telefonleitung meldete.

 

„Hier ist Felix Schwarz. Elli sind sie es?“ Man konnte beinahe durch die Leitung sehen, wie Felix sich mit einem Mal angespannt im Stuhl aufrichtete.

 

„ähm, ja“, stammelte die Frau von der Jugendfürsorge. „Ich brauche hier dringend jemanden. Wir brauchen Schutz. Irgendjemand war hier, hat einen Teddy in den Aufenthaltsraum gesetzt, ist wieder verschwunden und Alisar dreht vollkommen durch.“

 

„Ganz ruhig, Elli“, versuchte sie Felix zu beruhigen, denn ihre Atmung war sichtlich erregt und sie keuchte bei den einzelnen Sätzen, als hätte sie einen Marathon hinter sich. „Wo ist Alisar jetzt?“

 

„In ihrem Zimmer. Eine Kollegin ist bei ihr“, fügte sie hinzu.

 

„Ok. Elli, ich werde alles in die Wege leiten. Es wird gleich jemand bei ihnen sein. Lassen Sie das Kind nicht aus den Augen. Versperren Sie die Eingangstür, öffnen Sie keinem Unbekannten.“

 

Erleichtert ließ Elli den Hörer sinken. Hilfe war unterwegs. Ihre Finger zitterten zwar noch immer, aber wenigsten das Beben ließ langsam nach. Während sie aufstand, fuhr sie sich ungeschickt mit der Hand über die Stirn und strich ihre grauen Haare zur Seite, die in der heutigen Nacht womöglich noch grauer wirkten, als normal. Vermutlich passten sie sich ihrer Hautfarbe an, dachte sie nach einem kurzen, flüchtigen Blick in den Spiegel im Flur, der ihre Vermutung untermauerte, das sie heute nicht unbedingt frisch und blendend aussah.

 

Sie ging zunächst zur Tür und kontrollierte das Schloss. Sicherheitshalber drehte sie den Schlüssel ein zweites Mal herum. Vorsichtig lugte sie nach draußen. Doch sie sah nichts. Sie hörte nichts. Es war still. Viel zu still.

 

War es die ganze Zeit schon so dunkel gewesen? Die Deckenbeleuchtung im Aufenthaltsraum war aus, nur ein schauriger Schimmer der kleinen Stehlampe schien sich auf dem Muster des frisch versiegelten Parkettbodens zu spiegeln. Auch wenn sich Ellis Herz schmerzend zusammenzog, sie musste sich überwinden. Sie musste das Zimmer und den anschließenden Flur durchqueren. So schwer es ihr auch in diesem Moment fiel und sich ihr ganzer Körper und Geist dagegen verbissen zu wehren schien. Sie musste nach dem Kind sehen. Nicht mehr lange und es würde Hilfe kommen. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Kurz vor dem Übergang zum Flur blieb sie erstarrt stehen.

 

Hatte sie die Terrassentür im Esszimmer verschlossen? An heißen Tagen, wie heute, öffnete sie die Tür doch am Abend immer zum Lüften, sobald alle Kinder in den Betten waren.

Elli kniff überlegend die Augenbrauen zusammen. Warum wollte es ihr nicht einfallen? Hatte ein Teddybär ihr tatsächlich sämtliche Sinne vernebelt? Sie wägte ab. Doch die Tatsache, dass schließlich auch ihre Kollegin die Tür geöffnet haben könnte, überzeugte sie von der Notwendigkeit nachzusehen.

 

Ihr Weg führte sie zurück in den Aufenthaltsraum, doch dieses Mal drückte sie auf den Lichtschalter und sofort verspürte sie die Sicherheit von Licht, reines klares Licht. Sie fuhr sich mit eiskalten Fingern durch die Haare und betrat den kleinen Nebenraum, den sie für die gemeinsamen Mahlzeiten nutzten, und in dem zur Zeit die Stühle noch auf den Tischen standen, damit die Putzfrau die täglichen Essensspuren besser beseitigen konnte. Die Putzfrau? Vielleicht hatte sie den Teddy mitgebracht? Jemand hat sie vor dem Haus abgefangen und … Nein. Das passte zeitlich nicht, dafür war sie schon zu lange wieder weg. Und Elli konnte sich noch ganz klar an die fluchenden Worte der Reinigungsdame erinnern, die sich mal wieder über die Tomatensoße aufregte. Das war schon mindestens drei Stunden her.

 

Am Abend hatte sich Alisar hier über die Spaghetti hergemacht und man konnte klar erkennen, dass sie noch sehr wenig Vorerfahrung mit dieser Nudelsorte hatte. Am Ende war nicht nur ihr Gesicht verschmiert gewesen, nein, auch ihre Haare hatten sich der Farbe der Tomatensoße angepasst. Aber das glückliche Lächeln des Kindes ließen die schlechten Tischmanieren vergessen. Und das Baden war hinterher eh schon eingeplant gewesen. Dann die Diskussion um den passenden Schlafanzug. Elli hatte ihr ein rotes, ein blaues, sogar einen rosa Nachthemd angeboten, aber Alisar war beständig dagegen gewesen und hatte auf einen grünen Schlafanzug bestanden, ob er passte oder nicht.

 

Die Erinnerung an die hitzigen Verhandlungen mit dem Kind ließen Elli für einen kurzen Moment die Gefahr um sich herum vergessen und ohne weiteres Zögern ging sie zur Terrassentür. Von weitem schien diese zwar verschlossen, doch wenn sie schon mal da war, wollte sie es wenigstens kontrollieren. Gerade als sie im Halbdunkeln ihre Hand nach dem Griff ausstreckte, knirschte es unter ihren Füßen. Ihr Blick huschte nach unten, erkannte die Glasscherben, und ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Sie hatte sich die ganze Zeit nur an der Hoffnung festgehalten, jemand hätte diesen Teddy hereingeschmuggelt, doch jetzt war klar ‚Es war jemand hier‘.

 

Und es kam Elli vor, als hätte mit dem Knirschen unter ihren Füßen jemand einen inneren Schalter umgelegt. Vergessen war die Angst. Die Vorsicht, die sie bis eben so krampfhaft gelähmt hatte, war verschwunden. Sie drehte sich um und rannte los. Sie rannte durch den Aufenthaltsraum, durch den dunklen Flur.

  

Elli riss die Tür zu Alisars Zimmer auf. Und mit dem Anblick erlosch in ihr sämtliche Selbstkontrolle. Sie war sich nicht sicher, was zuerst geschah. Ihre zuvor schnelle Atmung, ihr rasender Puls, setzte mit einem Schlag aus. Ihre Beine gaben nach und konnten ihren bleischweren Körper nicht mehr tragen. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer heißen Stirn, während sie ungeschickt auf die Knie sank, ihre eiskalten Hände vor das Gesicht schlug und somit zu verhindern versuchte, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Statt zu schreien, jammerte sie erbärmlich, flehte zu Gott, dass alles nur ein schrecklicher Albtraum war.

 

Doch es war Realität. Grausame Realität. Zeit verstrich. Es dauerte Minuten bis Elli sich aus ihrem Schockzustand reißen konnte. Bis sie wieder einen Hauch von Leben in sich spürte und ihre betäubten Sinne wieder erwachten. Der Geruch des Blutes drang unweigerlich in ihre Nase. Die Bilder kehrten zurück. Erst jetzt öffnete sie zögerlich die Augen und blickte schon beinahe gefasst auf die Tote. Der leblose Körper, der rücklings auf dem kleinen Kinderbett lag, war über und über mit Blut verschmiert. Blut. Der Kopf der Frau war beinahe ganz abgetrennt und hing unnatürlich über die Bettkante nach unten.