DAS GLAS IN MEINER HAND

 

 

Mein Name ist nicht von Bedeutung. Wer ich bin, was ich getan habe? Vielleicht werdet ihr das am Ende der Geschichte wissen. Ob ihr es auch versteht, mag ich nicht versprechen, denn das liegt nicht in meiner Macht. Doch meinen Namen, meinen wahren Namen, werdet ihr mit Sicherheit nie erfahren. Das dient meiner eigenen Sicherheit. Nennen wir mich hier der Einfachheit halber und zum besseren Verständnis Malika Shitana. Die Bedeutung spricht für sich. Ich bin die Mörderin von Timothy Sanders. Dies ist meine Geschichte.

 

*****

 

Tot. Zweifelsfrei tot. Malika fühlte ein weiteres Mal nach seinem Puls, legte ihren Zeigefinger auf die blasse Haut an seinem Hals. Sie wollte auf Nummer sicher gehen. Doch kein Klopfen war zu spüren. Vorsichtshalber, und nur um jeglichen Zweifel zu beseitigen, beugte sie sich über ihn, hielt ihm Mund und Nase zu. Wenn er noch lebte, wenn noch ein winziger Funke in ihm war, dann würde er früher oder später nach Luft schnappen. Doch nichts geschah. Der leblose Körper zeigte keine Regung. Er war tot. Sie war am Ziel.

 

„Sie sind ihm ins Schlafzimmer gefolgt und haben zugesehen, wie er stirbt?“ Die Stimme von Kriminalhauptkommissar Steinberger war monoton und abgeklärt. Fast enttäuschend ruhig. Malika hätte sich mehr Emotionen erhofft, doch der Mann mit leichtem grau meliertem Haar zeigte keinerlei Regung. Sein Gesicht schien unbeweglich zu sein. Und selbst die blauen Augen schienen kalt, starrten sie von Anfang an an, als wollten sie ihren Körper durchbohren.

 

„Ja“, wie um es ihrem Gegenüber gleich zu tun, legte sie ihre Hände vor sich auf den Tisch und erwiderte den Blick, kalt und gefühlslos. Ihre Finger blieben ruhig, ihr Körper blieb entspannt. Er würde sie nicht brechen. Auch wenn er versuchte sie einzuschüchtern, oder sie mürbe machen wollte. Sie blieb ruhig. Noch.

 

Seit geschätzten fünf Stunden saß sie hier im Befragungsraum des Münchner Polizeipräsidiums. Der triste und langweilige Raum zerrte langsam an ihren Nerven, doch noch war sie nicht bereit, klein beizugeben.

 

„Ja?“

 

Draußen war es inzwischen sicherlich schon hell und der gestrige klare Nachthimmel hatte auch für Heute schönes Wetter versprochen. Malika liebte den Frühling, sie liebte es, wenn die Vögel im Stadtpark zu zwitschern begannen und die ersten Blumen aufblühten. Sie mochte lange Spaziergänge, ganz besonders wenn sie barfuß über das grüne Gras laufen und die Füße im seichten Wasser des Baches baden konnte. Frühling. Vor einem Jahr war sie so glücklich gewesen. Sie hatte Andreas kennen gelernt, lieben gelernt.

 

Eine Hand klatschte unerwartet und aggressiv auf den Tisch. Der Knall ließ Malika zusammenzucken, riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Atem stockte. Für einen winzigen Moment, dann sah sie wie der Mann aufsprang. Sein Körper kam immer näher. Seine Augen blitzten.

 

„Reden Sie endlich“, schrie er sie an und von der eben in sich ruhenden Person schien nichts mehr übrig zu sein. Endlich zeigte auch er die Verzweiflung, die tief in ihm schmerzte.

 

„Ich bin ihm gefolgt.“ Die zunehmende Lautstärke beim Verhör, aber auch die Tatsache eines kleinen weiteren Erfolgserlebnisses, ließen ihre Finger leicht zittern. Malika faltete die Hände. Diese Genugtuung wollte sie Steinberger, dem Chefermittler, nicht gönnen. Sie erwiderte geduldig seinen Blick. „Er ist wankend aus dem Sessel aufgestanden. Und hat mich um Hilfe gebeten. Er fühlte sich nicht gut.“

 

Sie musste ihn stützen. Wie ein Schwächling krallten sich seine tollpatschigen Hände in ihre Schulter, als er versuchte vorwärts zu kommen und seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten. Er schien bereits gemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte. Die Wirkung setzte langsam ein, zunächst zitterten seine Hände, dann sein ganzer Körper. Sein Atem ging schnell, sein Puls raste. Seine Haut war blass und seine Stirn bedeckt mit Schweiß. Sein Geist war bereits benebelt.

 

Ein schrilles Auflachen war zu hören. Ironisch. Und ziemlich unpassend.

 

„Es ging ihm nicht gut?“ Steinberger ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und legte sich demonstrativ weit zurück. Seine Arme verschränkte er vor der Brust. „Sie wissen warum es ihm nicht gut ging.“

 

Das war keine Frage. Malika biss auf ihrer Unterlippe herum. Dann entspannte sie ihr Gesicht wieder, legte den Kopf ein wenig schief und lächelte ihr Gegenüber an. Dieser hatte sich scheinbar wieder im Griff, seine Mine war erneut versteinert, seine Augen funkelten nicht mehr.

 

„Natürlich wusste ich das“, bestätigte sie seine Worte. Danach atmete sie tief durch.

 

Sie blickte Timothy hinterher, als er aufstand, um eine neue CD aufzulegen. Die romantische Klaviermusik war zu Ende. Inzwischen hatten sie beide zwei Gläser Wein getrunken, geredet und gelacht. Irgendwie war er ja schon charmant und wäre sie nicht da gewesen, um das zu tun, was sie tun musste, hätte sie ihn tatsächlich nett gefunden. Als er ihr den Rücken zudrehte, nutzte sie die Gelegenheit. Sie schüttete das Pulver in sein Glas, versteckte das kleine Gläschen unter dem karierten Kissen und legte dann unschuldig die Beine übereinander. Als er zurückkam, lächelte sie ihm entgegen.

 

„Sie haben ihm Gift verabreicht.“ Schon wieder eine Feststellung. Der Kommissar setzte sich wieder gerade hin, blätterte in seinen Unterlagen, griff nach einem bestimmten Bericht. Seine Augen verloren plötzlich an Glanz. „Mit dieser Konzentration hätten sie auch einen Elefanten umbringen können.“

 

Sie liebte nicht nur den Park, auch der Zoo zog sie magisch an. Sie liebte den Frühling, die Blumen und Tiere und sie liebte Andreas. Bei den Papageien hatte er ihr vor einem halben Jahr einen Heiratsantrag gemacht, war vor fremden Leuten vor ihr auf die Knie gesunken und hatte um ihre Hand angehalten. Sie war so glücklich.

 

„Ich wollte auf Nummer sicher gehen.“ Gedankenversunken spielte sie mit dem Ring an ihrem Finger. Ein schöner Ring, golden und der kleine Brillant funkelte hoffnungsvoll. Es war jedoch hoffnungslos.

 

„Warum?“ Hörte sie in diesem simplen Wort tatsächlich ein bisschen Wehmut? War der Mann, der sie hier seit Stunden befragte, tatsächlich ein menschliches Wesen? Mit Gefühlen? „Sie haben einen Menschen getötet. Sie haben jemanden umgebracht. Wissen Sie wie viele Leute sie damit unglücklich machen?“

 

Unglücklich. Ja, als sie die Nachricht von Andreas Tod erreichte, war sie unglücklich. Mehr als unglücklich. Sie war am Boden zerstört. Man hatte ihr alles genommen, den Boden unter den Füßen weggerissen. Haltlos. Sie hatten nicht nur sein Leben ausgelöscht, nein, auch ihre Seele. Einen Tag vor ihrer Hochzeit erhielt sie die grausame Nachricht.

 

Jetzt war es ihr Lachen, dass durch den Raum klang. Ihre Lippen begannen zu beben, ihre Hände krampften sich zusammen.

 

„Gerechtigkeit“, hauchte sie und kniff die Augen zusammen. In ihr brodelte es, doch sie wollte unter keinen Umständen die Selbstkontrolle verlieren. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Einatmen, ausatmen.

 

Einatmen. Ausatmen. Sie hatte es getan. Wenige Minuten später setzte sie sich auf die schwarze Ledercouch und lehnte sich gegen die weichen Kissen. Stille. Absolute Stille. Nur das Rauschen in ihren Ohren, ihr noch rasender Puls, der unaufhaltsam durch die Adern strömte, war zu hören.

Das dunkle Rot des Weines spiegelte sich auf der Glasplatte des Wohnzimmertisches. Wären die angetrockneten Flecken nicht, sähe es edel und exquisit aus, doch die dunklen Spuren unter dem Fuß des Weinglases zeugten von unsachgemäßem Gebrauch der alkoholischen Köstlichkeit. Ein Glas zu viel. Sie beugte sich vor und griff nach dem Glas, schwenkte die dunkelrote Flüssigkeit. Die Erinnerungen an die letzten Stunden sollten eigentlich ein angenehmes Gefühl in ihr wecken, etwas, wonach sie sich schon so lange sehnte. Doch das Glücksgefühl blieb aus. Sie hob das Glas an ihre Lippen, so wie sie es in Gedanken immer und immer wieder getan hatte. Doch bevor sie den ersten Schluck trinken und ihr Vorhaben endgültig abschließen konnte, stürmte die Polizeieskorte die Wohnung. Das Glas in ihrer Hand fiel zu Boden. Ungetrunken.

 

„Das nennen Sie Gerechtigkeit? Gerechtigkeit wofür? Was hat Ihnen Kommissar Timothy Sanders getan? Warum?“

 

Ein kaltes Lächeln huschte über Malikas Gesicht, als die Bilder der Erinnerung in ihr aufblitzten. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie er mit zitternden Fingern erneut nach dem Glas griff, den Wein verschüttete, einen letzten Schluck nahm und dann merklich im Sessel zusammensackte.

 

„Er hat mein Leben zerstört. Er hat mir alles genommen.“ Ihre Stimme brach.

 

*****

 

Andreas Tod hat mich verändert. In mir gab es nur noch diese Leere, ein schmerzendes pulsierendes Gefühl, ein Vakuum das jegliche Empfindung in sich aufsaugte. Leere. Und sie schrie nach Vergeltung. Es war alles was mir in den Sinn kam, ich konnte an nichts anderes denken.

 

Ich fand heraus, welcher Kommissar bei dem Überfall auf die IT-Firma auf meinen Verlobten geschossen hatte und wessen Kugel ihn tödlich traf. Ich suchte die Nähe zu ihm, lernte ihn kennen. Ich mochte Timothy, er war ein liebenswerter Mann. Doch ich war nicht fähig zu fühlen. Meine Gedanken waren auf Rache ausgerichtet. Was ich tat, verfolgte nur dieses eine Ziel. Tagelang, wochenlang. Nach außen Freunde, in meinem Inneren Feinde. Was er für mich empfand, wird mir für immer verborgen bleiben.

 

Der Nebel lichtet sich, mein Geist wird klar. Was ich getan habe, befreite meine Seele. Für einen winzigen, kurzen Augenblick. Dann kam der Schmerz zurück. Ich bereue meine Tat.