Raphael und das Mädchen mit dem Sternenschal


 

 

Auch in diesem Jahr gibt es eine Weihnachtsgeschichte von Raphael. Wer Raphael ist und was er bisher erlebt hat, kannst du hier nachlesen.

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Der Winter war ins Land gezogen. Reiner weißer Schnee bedeckte die Hügel und Felder. Die stillen Wälder erstrahlten in glänzender Pracht und nur die dünnen Äste, die schon längst die schwere Last der Flocken nicht mehr hatten tragen können, streckten sich dunkel gen Himmel. Es war kalt, bitterkalt. Und das Blau des Himmels und die goldenen Strahlen der Sonne ließen die Welt in glitzernden Kristallen funkeln. Raphael saugte die klare Luft in sich auf. Er liebte die Stille – die unverwechselbare Ruhe -, die sich in dieser Jahreszeit unbeirrt ausbreitete. Die Menschen auf der Erde trugen zwar warme Jacken und zogen sich dicke Schals und Wollmützen an, um sich vor der klirrenden Kälte zu schützen, dennoch waren nicht viele Menschen unterwegs. Die meisten suchten Schutz in den wohlig warmen Wohnzimmern ihrer Häuser.

Raphael, der kleine Weihnachtsstern, konnte es nicht lassen. Wie jedes Jahr. Tag für Tag, Nacht für Nacht blinzelte er heimlich in die Fenster der Häuser hinein und beobachtete die Menschenkinder, die schliefen und träumten, mit ihren Eltern am Tisch saßen und eifrig bastelten, oder aber in der Küche standen und mit ihren Müttern Plätzchen backten.

Raphael verspürte plötzlich riesige Lust auf ein Stückchen Lebkuchen und hatte Heißhunger auf einen Zimtstern. Es roch so lecker auf der Erde, wie immer zur Adventszeit. Und der kleine Stern liebte diese Köstlichkeiten und konnte seinen Blick kaum mehr losreißen, wenn er bunt verzierte Plätzchen auf liebevoll dekorierten Tellern entdeckte.

Natürlich hatte Raphael auch Lisa schon aufgesucht, die gerade dabei gewesen war, Weihnachtskarten an ihre Freunde zu schreiben. Ob sie aber auch dieses Jahr wieder ein großes Fest plante wusste er nicht so genau, aber er hatte gesehen, dass alle in dem kleinen Dorf, wo seine heimliche Freundin wohnte, zufrieden und glücklich waren.

 

Raphaels Augen schweiften über den Horizont und überquerten einen zugefrorenen See. Gerade als er die Augen schließen wollte, um sich für einen Moment auszuruhen, ging ein Ruck durch seinen Sternenkörper. Oh, wie hübsch. Wer war denn das? Raphael musste sich schon sehr weit nach vorne beugen, um das kleine Mädchen näher zu betrachten. Es zog ihn beinahe magisch an. Um den Hals hatte das Kind einen riesigen roten Schal gebunden. Doch nicht alleine das leuchtende Rot war Raphael aufgefallen, nein,  darauf waren hunderte, annähernd an die tausende kleine Sternchen gestickt. „Bezaubernd“, murmelte der kleine Stern und schwärmte selig: „Das sieht einfach himmlisch aus.“

 

Das Mädchen mit dem Sternenschal stapfte soeben durch den tiefen Schnee. Es lief durch den kleinen Stadtpark und jeder seiner Schritte knirschte unter den Stiefeln. Das Kind ging vorbei an dem Spielplatz mit der kaputten Wippe, über die sich Raphael schon öfter Mal geärgert hatte, weil sie noch immer nicht repariert worden war, lief dann über die Holzbrücke des zugefrorenen Baches und wollte schließlich die Abkürzung zur großen Straße nehmen. Aber …

 

„Oooohweh“, entfuhr es Raphael. Hannah kam ins Rutschen und der kleine Stern quiekte vor Entsetzen auf. Aufgeregt hielt er die Luft an. So gerne hätte er das Mädchen festgehalten, es beschützt, weil er bereits ahnte, was jetzt gleich passieren würde. Hannah stolperte und polterte und so sehr sie auch versuchte sich abzufangen, es war bereits zu spät. Wie eine kleine Schneekugel kugelte sie den Abhang hinunter. Raphael zog zischend die Luft ein, bei jedem Salto verzog er schmerzvoll das Gesicht und wartete auf den Aufschrei des Kindes, das jedoch regungslos im Schnee liegen blieb. Passanten, die herbeigeeilt waren, weil sie den Sturz beobachtet hatten, wollten Hannah auf die Beine helfen. Doch was tat sie?

 

Hannah kicherte. Sie setzte sich auf, streckte die Beine von sich und klopfte sich lachend den Schnee von ihrer Hose. Dann befreite sie auch Jacke und  Handschuhe von Schnee und Dreck, bevor sie diese abstreifte und schließlich nach der Hand griff, die ein besorgt dreinblickender Mann ihr entgegen streckte. „Oh, da ist wohl ein kleiner Schneeengel vom Himmel gefallen“, sagte er wohlwollend und half ihr beim aufstehen. „Hoffentlich hast du dich nicht verletzt?!“, erkundigte er sich.

 

Hannah schüttelte sich einmal kurz und blickte dann den Mann an. „Neee.“ Sie grinste und rückte ihren Schal und die schiefsitzende Mütze zurecht. „Mir geht´s gut. Alles noch dran.“ Sie überlegte kurz, dann fügte sie hinzu: „Außerdem kann ein Engel sich nicht verletzen. Der ist ja schon tot.“

 

„Na dann ist ja gut.“ Der Mann nickte verwirrt. Er klaubte seine zahlreichen Einkaufstaschen zusammen, die er in der Eile achtlos von sich geschmissen hatte. Raphael schluckte und zählte heimlich mit. Eins, zwei, fünf, acht … was, so viele?, fragte er sich erstaunt.

 

„So viele?“, platzte es dann auch unvermittelt aus Hannah heraus, während sie starrte auf das Tütenmeer starrte.

 

Der Mann schmunzelte. „Meine Weihnachtseinkäufe. Ich habe eine große Familie.“ Er stöhnte, ein freundliches herzliches Stöhnen und als er endlich die ganze Last auf seinen Armen verteilt hatte, nickte er Hannah zu. „Ich wünsche dir ein fröhliches Weihnachtsfest mit deiner Familie, mein kleiner Schneeengel. Und aufpassen! Nicht wieder vom Himmel fallen.“ Er lächelte ihr zum Abschied freundlich entgegen und ging dann weiter.

 

Raphael blieb der Mund offen stehen, als er sah, was Hannah dann tat. Sie streckte dem freundlichen Mann doch tatsächlich, hinter seinem Rücken, die Zunge raus. Raphael musste lachen, auch wenn er wusste, wie unhöflich das was Hannah da tat eigentlich war. Irgendwie gefiel ihm das Mädchen mit dem Sternenschal.

 

Hannah zupfte ihren Mantel zurecht und zog ihre Handschuhe wieder an, dann ging sie weiter. Auf dem großen weihnachtlich geschmückten Marktplatz blieb sie vor dem aufgestellten Christbaum stehen und betrachtete die goldenen Kugeln. Die Sonne blitzte durch die Tannenzweige und ließ die aufgestickten Sterne auf ihrem Schal golden  leuchten. Bildete sich Raphael das nur ein, oder funkelten Hannahs Augen mit den Sternchen um die Wette? Gerade als er näher hinsehen wollte, entdeckte er eine Familie, die Hannah fröhlich zuwinkte. Hannah hüpfte ihnen entgegen.

 

„Hallo Clara“, begrüßte Hannah ihre Freundin. Das Mädchen sah lustig aus. Wenn es lachte, konnte man die vielen Zahnlücken sehen. Raphael schmunzelte.

 

„Ich bin schon so aufgeregt.“, kicherte es und hüpfte vor Hannah auf und ab.

 

„Warum bist du denn aufgeregt?“, wollte Hannah wissen und auch Raphael lauschte angestrengt, um kein Wort zu verpassen.  Plante diese Clara etwa ein Fest? Damals war Lisa auch aufgeregt gewesen. Aber inzwischen wusste er, dass Kinder wegen vielen unterschiedlichen Dingen schrecklich nervös sein konnten.

 

„Na wegen dem Weihnachtsfest“,  teilte Clara mit. „Es kommen doch so viele Leute: meine Oma, mein Opa, mein Onkel, meine Cousine, achja, und Mama, Papa und mein kleiner Bruder sind ja sowieso schon da. Jedenfalls wird es lustig und ich krieg bestimmt viele Geschenke.“ Das Mädchen schien seinen Redeschwall gar nicht mehr beenden zu wollen.

 

„Clara, wir müssen weiter“, quengelte die Mutter von hinten. „Wünsch Hannah ein frohes Weihnachtsfest und verabschiede dich. Wir wollen noch zum Bäcker.“

 

Pah, Raphael verdrehte verärgert die Augen. Immer diese ungeduldigen Eltern, die die wichtigen Gespräche der Kinder unterbrachen, weil sie um Himmelswillen mal wieder schrecklich in Eile waren.

 

„Schöne Festtage“, gehorchte Clara aufs Wort und schenkte ihrer Freundin ein zahnloses entschuldigendes Lächeln. Während sie von der Mutter bereits weitergezogen wurde, winkte sie zum Abschied.

 

Hannah aber blieb wie angewurzelt stehen und … Raphael stutzte. Er blinzelte erneut, um sicher zu sein und einen Irrtum hundertprozentig auszuschließen. Nein. Er legte seine Sternenstirn in Falten. Das konnte doch jetzt echt nicht wahr sein. Wie unhöflich! Da wünscht ihre Freundin ihr ein schönes Fest und wie dankte sie ihr das? Hannah verzog das Gesicht zu einer Fratze und machte hinter dem Rücken der Familie eine lange Nase. Ganz schön frech! Hannah war mit Sicherheit ein sehr … ungewöhnliches Menschenkind.

 

 

*****

 

„Das wird ein schönes Weihnachtsfest“, rief Raphael laut und musste grinsen, als der große Stern neben ihm erschrocken zusammenzuckte. Die Sterne um ihn herum waren manchmal so langweilig, sie dösten und schlummerten die ganze Zeit vor sich hin oder, wenn sie tatsächlich einmal munter waren, unterhielten sie sich über Dinge wie Sonnensysteme und Weltraumtechnik. Raphael fiel da komplett aus der Reihe. Er war hibbelig und temperamentvoll und manchmal sogar ein wenig frech. Ein Kinderstern eben. Hach, er grinste, irgendwie war er ja auch ein klein bisschen wie das Mädchen mit dem Sternenschal. Gerade verspürte er den inneren Drang dem großen Stern, genau wie Hannah vor wenigen Minuten dem hilfsbereiten Mann, die Zunge rauszustrecken, als er bemerkte, dass dieser ihn fragend ansah. Im letzten Moment konnte er verhindern, dass die Zunge seinen Mund verließ und er setzte sein freundlichstes Lächeln auf. „Ehrlich, das wird ein wundervolles Weihnachtsfest“, wiederholte er seine Worte.

 

„Warum das denn jetzt schon wieder?“, murrte der Große leise und verdrehte die Augen. Natürlich heimlich, da er genau wusste, es würde den kleinen Stern kränken, wenn er es sähe und er wollte dem Kleinen nicht wehtun.

 

„Weil…“ Raphael war aufgeregt. „Na …“ Er schnappte nach Luft. „…weil einfach alle glücklich sind. Endlich mal!“

 

Der große Stern rümpfte die Nase. „Wirklich? Alle?“, fragte er daraufhin ungläubig und schüttelte langsam den Kopf.

 

„Ja, alle“, bestätigte Raphael und nickte so enthusiastisch, dass sogar ein klein wenig Sternenstaub von seiner obersten Zacke hinunter zur Erde wehte.

 

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Die tiefe Stimme des Sterns hörte sich sehr traurig an. „Raphael. Ich bin schon alt und habe schon viele hundert Weihnachtsfeste miterlebt. Es gibt immer Jemanden da unten auf der Erde, bei den Menschen und sicherlich auch bei deinen Menschenkindern, der gerade nicht glücklich ist. Das kannst du mir glauben. Sternenerfahrung. Guck nur, da unten…“

 

Raphael presste die Zähne aufeinander. Pah, was redete dieser missmutig gelaunte Oberschlaustern da bloß wieder für ein blödsinniges Zeug daher? Sternenerfahrung hin oder her: Nur weil es schon immer so gewesen war, musste es in diesem Jahr nicht auch so ein. Raphael schnaubte. Der hatte doch gar keine Ahnung, dieser Stern.  Vor wenigen Minuten waren jedenfalls alle Kinder glücklich gewesen. Doch vorsichtshalber suchte er mit seinen kleinen Sternenaugen erneut die Erde ab. Und …  

 

Was war denn jetzt los? Beinahe hätte er Hannah auf der Schaukel übersehen. Weil … Raphael musste schmunzeln … der Kopf des Kindes war inzwischen mit der Kapuze und dem dicken Schal so fest eingewickelt, dass nur noch die rote Nasenspitze zu sehen war. Hannah sah so niedlich aus. Doch irgendetwas stimmte nicht. Beim Anblick des Kindes machte das Herz in seiner kleinen Sternbrust einen Hopser. Er machte sich Sorgen um das Mädchen mit dem Sternenschal.

 

*****

 

Hannah saß auf der Schaukel. Sie ließ ihre Beine baumeln und hatte die kalte Eisenkette unter dem rechten Arm eingeklemmt um Halt zu haben. Sie schaukelte nicht richtig. Nein, zum schaukeln hatte sie keine Lust. Sie saß einfach nur da, in der eisigen Winterkälte. Der Spielplatz war menschenleer. Kein weiteres Kind war zu sehen. Nur in der Ferne spazierte ein älteres Ehepaar mit ihrem Dackel an der Leine durch den tiefen Schnee. Als sie näher kamen, winkten sie Hannah zu und riefen „Frohe Weihnachten“.

 

Raphael blickte gebannt zu dem Mädchen. Doch was er dann hörte, beruhigte ihn nicht. Ganz im Gegenteil. Es versetzte ihm sogar einen kleinen Stich ins Herz.

 

„Weihnachten ist blöd.“, murmelte das Kind.

 

Was? Was hatte sie da gerade gesagt? Und wie um ihm den Gefallen zu tun, wiederholte Hannah die Worte: „Weihnachten ist einfach nur blöd.“

 

Ungläubig blickte Raphael von Hannah zu dem großen Stern, der inzwischen schon wieder die Augen geschlossen hatte und somit nicht mitbekam, wie verzweifelt Raphael war. Weihnachten? Blöd? Da stimmte doch irgendetwas nicht. Weihnachten war doch SCHÖN. Weihnachten war doch das allerschönste Fest des Jahres. Alle Kinder liebten Weihnachten!

 

Warum aber sah Hannah – die lustige und freche Hannah, die eben noch so fröhlich gekichert hatte - plötzlich so traurig aus. Und, konnte er das richtig erkennen? Weinte Hannah etwa? Liefen da kleine Tränchen über ihre Pausbacken? Raphael seufzte. Wenn er nur wüsste, was mit Hannah los war und wie er ihr helfen konnte. Hatte sie sich vielleicht bei ihrem Sturz vorhin doch verletzt? Brauchte sie Hilfe? Er musste unbedingt etwas unternehmen. Nur was konnte er hier oben am Himmelszelt schon groß ausrichten? Er dachte so angestrengt nach, dass sein kleiner Sternkörper sich kräuselte.

 

Raphael war so sehr mit Hannah beschäftigt, dass er seine direkte Umgebung gar nicht mehr richtig wahrnahm. Er blickte selbst ganz traurig und weinte beinahe mit, als er das zarte Streicheln einer Wolke bemerkte.

 

„Raphael, mein Guter“, sprach eine Stimme zu ihm und riss ihn abrupt aus seinen trüben Gedanken. „Warum guckst du denn so traurig?“, wollte die Wolke von ihm wissen. „Freust du dich denn gar nicht auf Weihnachten?“

 

„Doch, schon“ erwiderte der kleine Stern. „Aber sieh nur, dort unten, Hannah freut sich nicht und ich weiß einfach nicht warum.“ Er bog jede einzelne Zacke wieder gerade und runzelte stattdessen seine Sternenstirn. „Weil, weißt du, Weihnachten ist doch ein Fest der Freude und alle sollen doch glücklich sein, aber Hannah sagt - stell dir das mal vor – sie sagt: Weihnachten ist blöd. Ich versteh das einfach nicht. Wieso freut sie sich nicht, so wie alle anderen Kinder auch?“

 

Da geschah es. Raphael machte große Augen und staunte nicht schlecht. Die weiße Wolke, die soeben noch mit ihm geredet hatte, löste sich vor seinen Augen auf, bis nur noch silberner Glitzerglanz zu sehen war - so etwas Schönes hatte er noch nie gesehen - und der Glitzerstaub schwebte langsam nach unten in Richtung Erde. Immer weiter und weiter. Bis hin zu Hannah. Doch das war noch nicht alles. Im nächsten Augenblick riss der kleine Stern die Augen noch weiter auf, als sich die Wolke direkt neben dem Kind zu einer Frau verwandelte.

 

Hannah hatte von alldem nichts bemerkt. Noch immer saß sie auf der Schaukel und blickte traurig zu Boden.

 

„Meine liebe Hannah“, hörte Raphael die liebliche Stimme der Wolke. „Warum bist du so bekümmert? Freust du dich denn gar nicht auf das Weihnachtsfest?“

 

„Nein“, murmelte Hannah und zog eine Schnute. „Alle feiern fröhliche Weihnachten. Sie haben Besuch von Verwandten und sie kriegen viele Geschenke.“

 

„Und du nicht?“, erkundigte die Wolkenfrau mitfühlend.

 

„Nein.“ Hannah schüttelte den Kopf. „Ich find Weihnachten blöd.“

 

„Warum denn?“, wollte die Frau wissen.

 

„Weil!“, antwortete Hannah zornig und setzte gleich trotzig hinterher, bevor die Frau ihr erklären wollte, dass ‚weil‘ ihre Frage nicht beantworte: „Und weil ist sehr wohl eine Antwort.“ Ihre Augen funkelten. „Meine Mama sagt, wenn man keine Worte findet um etwas auszudrücken, reicht auch ein einfaches ‚weil‘.“

 

Raphael verschluckte sich beinahe, als er diese Worte hörte und schämte sich fast ein wenig. Doch das war eben Hannah: rotzig und unverschämt. Gespannt blickte er nach unten. Was wohl die Wolke darauf erwidern würde? War sie vielleicht sauer?

 

Zum Glück nicht. „Vielleicht solltest du dem Weihnachtsfest eine Chance geben.“ Sie strich dem Kind zärtlich über den Rücken. „Auch ohne Besuch kann es ein wundervolles Fest werden. Und bei den Geschenken kommt es doch nicht auf die Menge an.“

 

„Glaub ich nicht.“ Hannah stand auf und sah die Frau grimmig an.

 

„Aber ein Versuch ist es vielleicht wert“, erklärte die Wolke und lächelte. „Geh nach Hause und feiere DEIN Weihnachten. Blick nicht auf andere! Kein Fest ist gleich! Jede Familie ist etwas ganz Besonderes. Man muss nur, tief in sich, das Schöne finden und der Freude eine Gelegenheit geben, sich zu entfalten.“

 

Raphael beobachtete von oben, wie Hannah davon stapfte. Als sie außer Sichtweite war, löste sich die Frau wieder in Glitzerstaub auf und schwebte zu ihm herauf. „Mehr können wir wohl nicht tun“, sprach sie, als sie sich wieder zur Wolke zurückverwandelt hatte.

„Aber … aber…“, versuchte Raphael die richtigen Worte zu finden. „Wir müssen ihr doch helfen, das Schöne zu finden.“

 

„Hab Geduld mein kleiner Stern und vertrau auf den Zauber der Weihnacht. Leb wohl, Raphael.“ Die Wolke blinzelte dem kleinen Stern zu und schwebte majestätisch davon.

 

*****

 

Raphael dachte lange über die Worte der Wolke nach. Hin und wieder blickte er nach unten auf die Erde. Irgendwie beschlich ihn die Befürchtung, dass sich dieses Mal nicht alles zum Guten wenden würde, denn am Abend war Hannah noch immer traurig, in der Nacht schlief sie unruhig und wälzte sich im Bett hin und her. Jetzt war Zeit zum Aufstehen. Heute war der 24. Dezember. Weihnachten.

 

Raphael schnüffelte. Es roch nach heißer Schokolade und Zimtplätzchen.  Der kleine Stern rieb sich die Augen und beobachtete dann, wie sich Hannahs Zimmertür leise öffnete. Mit einem Kuss auf die Stirn weckte die Mutter zärtlich ihre kleine Tochter. „Hannah, aufstehen. Das Weihnachtsfrühstück ist fertig.“

 

„Nee, lass mich. Ich will noch schlafen“, murrte Hannah und zog sich die Decke über den Kopf.

 

„Aber wir haben doch noch so viel zu erledigen für heute Abend. Oder willst du Weihnachten ganz alleine verbringen?“

 

Verwirrt lugte Hannah unter der Decke hervor. „Wir sind doch eh alleine.“

 

„Das glaube ich nicht“, flüsterte die Mutter und gab ihrer Tochter einen weiteren Kuss auf die Stirn. „Na komm, steh auf, ich hab schon was für dich vorbereitet.“

 

Was das wohl war? Raphael überlegte fieberhaft, aber es wollte ihm einfach nichts einfallen. Was hatte die Mutter vor? Was hatte sie vorbereitet? Der kleine Stern seufzte. Er war wie immer so neugierig und entsetzlich ungeduldig. Doch dann rief er sich die Worte der Wolkenfrau in Erinnerung. Vielleicht hatte sie ja doch recht und man musste dem Zauber der Weihnacht einfach vertrauen und geduldig warten. Was ihm aber dennoch sehr schwer fiel. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen.

 

Wenig später folgten seine Blicke Hannah ins Wohnzimmer. In der Ecke stand ein noch ungeschmückter Tannenbaum, lediglich die Lichterkette war bereits auf den grünen Zweigen befestigt. Auf dem großen Holztisch lag ganz viel bunter Karton. Schere und Kleister, Draht bis hin zu Styropor-Weihnachtskugeln. Basteln!, kam Raphael in den Sinn. Ob basten wirklich Hannah die Freude am Weihnachtsfest zurückbringen konnte? Raphael bezweifelte das sehr. Es musste schon ein kleines oder sogar ein großes Wunder geschehen, um Hannah schließlich mit der Nase auf das Schöne und Gute an Weihnachten zu stupsen.

 

Hannahs Mutter saß bereits am Tisch, vor sich eine dampfende Tasse Kaffee. In der Hand hielt sie einen Stapel Papier. Das Mädchen kniete sich auf einen Stuhl und sah ihre Mutter fragend an. „Was hast du da?“

 

„Guck mal.“

 

„Oh, ein Bild von Opa.“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Kindes. „Da hat er mit mir eine Schneeballschlacht gemacht.“ Sie kicherte. „Ich hab ihn voll im Gesicht getroffen.“

 

Die Mutter legte ein weiteres Blatt auf den Tisch.

 

„Oh, das ist aber ein schönes Bild von Papa.“ Ihr Lachen war wieder verschwunden und traurig blickte sie auf das Bild. „Ich vermisse ihn.“

 

„Ich vermisse ihn auch“, sagte die Mutter und strich dem Mädchen über den Kopf.

 

„Was für ein Baby hält er da in der Hand?“, fragte Hannah neugierig.

 

„Das bist du“, antworte die Mutter.

 

Hannah strahlte und nickte aufgeregt.

 

„Ich hab noch mehr Fotos. Schau.“ Die Mutter legte alle auf den Tisch. „Von Oma Maria, von Oma Trine, von Bello, von Häschen Elfriede.“

 

„Ich will, dass die alle zu unserem Weihnachtsfest kommen“, klagte Hannah und biss sich auf die Unterlippe. Sie war alt genug zu wissen, dass ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen konnte. „Sie sollen mit uns feiern.“

 

Die Mutter rückte näher und legte den Arm um die Schulter ihrer Tochter. „Das wünsche ich mir doch auch. Und das werden sie auch! Genau deshalb werden wir jetzt für jeden, den wir bei uns haben wollen, eine Weihnachtskugel basteln.“

 

*****

 

Raphael leuchtete oben am Himmel. Seit Stunden blickte er hinab auf die Erde, lugte durch das Wohnzimmerfenster, hinter dem Hannah mit ihrer Mutter Weihnachtskugeln bastelte und staunte. In der Zwischenzeit hingen bereits die ersten Kugeln am Baum. Hannah hatte die Äste zudem mit Lametta geschmückt und kleine Schleifchen daran festgebunden. Es war mit Abstand der allerschönste Tannenbaum den Raphael jemals gesehen hatte. Die Kugeln lachten ihm entgegen. Ganz oben hing Hannahs Papa.

 

Hannah schien zufrieden. Ihre Wangen glühten rot, während sie konzentriert die letzten Sterne ausschnitt. Inzwischen war es Abend geworden. Die Sonne versank am Horizont und färbte den Himmel rosarot. Diese Stunden des Tages liebte Raphael ganz besonders, wenn der Tag noch nicht vorüber war und die Nacht noch nicht begonnen hatte. Es war der perfekte Augenblick.

 

„Geh und zieh dein Kleidchen an“, sagte die Mutter und schmunzelte verdächtig. Was sie wohl im Schilde führte?

 

Während Hannah in ihrem Zimmer verschwand, schaltete die Mutter die Lichterkette ein, zündete ganz viele Kerzen an und holte dann aus dem obersten Fach des Schrankes ein kleines Geschenk hervor, das sie liebevoll unter den Baum platzierte. Raphaels Herz klopfte aufgeregt in seiner Sternenbrust. Das war sicher ein Geschenk für Hannah.

 

Wenig später kam seine neue Freundin zurück. Und Raphael freute sich, als er sah, dass sie wieder den Schal mit den Sternen trug, den er so toll fand. Und er passte auch noch perfekt zu ihrem roten Kleidchen.

 

Mit offenem Mund stand das Kind vor dem Tannenbaum und betrachtete ihr Werk. „Guck mal“, sagte es leise und zeigte auf die oberste Kugel. „Papa leuchtet.“

 

Die Mutter nickte, bückte sich und hob das in goldenes Geschenkpapier gewickelte Päckchen auf. „Das ist für dich.“

 

„Oh“, Hannah strahlte über beide Ohren. Sie ließ sich auf die Knie sinken und löste vorsichtig das glänzende Papier.

 

Raphael streckte sich, damit er auch etwas sehen konnte. Was war da in der Schachtel? Der kleine Stern war so aufgeregt. Und endlich, es schien ihm eine Ewigkeit gedauert zu haben, öffnete Hannah die Schachtel. Ein kleines Armband mit Sternenanhänger funkelte ihm entgegen. Toll, so etwas hätte er auch gerne gehabt.

 

„Dein Stern, Hannah“, hörte er die Mutter sagen. „Komm, ich zeig ihn dir.“ Gemeinsam mit ihrer Tochter trat sie ans Fenster. „Guck da oben. Da leuchten sie, nur für dich. Es ist so ähnlich wie mit den Weihnachtskugeln. Nur leuchten sie in unseren Herzen. Und damit du dich immer daran erinnerst, dass wir beide nicht alleine sind, bekommst du heute dieses Armband von mir.“ Sie band es Hannah um das Handgelenk.

 

„Mama, guck mal“, rief Hannah plötzlich begeistert aus. „Dieser kleine Stern da, der funkelt ganz hell. Den mag ich am liebsten.“

 

„Dann gehört er ab sofort dir.“ Zärtlich strich die Mutter dem Mädchen über den Kopf.

 

Und Raphael? Der wurde ganz rot im Gesicht, als er bemerkte auf wen Hannah da zeigte. Auf ihn! Auf Raphael. Und in diesem Moment war es um ihn geschehen. Er weinte. Vor Freude kullerten die Tränchen, sie tropften von seinem Sternenkörper, schwebten als kristallene Schneeflocken zur Erde und ließen sich lautlos auf der Fensterbank vor der Scheibe  nieder, hinter der Hannah noch immer stand und nach oben in die Sterne blickte. Aber Hannah sah nicht mehr traurig aus. Sie schien glücklich zu sein. Sie zupfte ihren Sternenschal zurecht und flüsterte leise: „Danke, Mama, danke! Das war das allerschönste Weihnachtsfest auf der ganzen Welt. Und der kleine Stern da oben, ist jetzt mein neuer Freund!“

 

*****

 

Raphael leuchtet ausnahmslos jede Nacht. Doch jedes Jahr zu Weihnachten hüllt sich sein kleiner Himmelskörper in einen ganz besonderen Schimmer. Wenn auch du einen geliebten Menschen oder auch ein Haustier viel zu früh verloren hast, wenn Menschen zu weit entfernt sind, um sie zu erreichen, dann erinnere dich an Raphaels Geschichte. Denke daran, dass du nie alleine bist und lass die Erinnerungen in dir aufleben.

 

 

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Raphael hat sein eigenes Gästebuch und er freut sich riesig, wenn du ihm etwas schreibst ;)

 

Raphaels Gästebuch