Der Traum enthüllt die Wirklichkeit, hinter der die Vorstellung zurückbleibt.

Das ist das Schreckliche des Lebens – das Erschütternde der Welt.

(Kafka)

 

Der Himmel ist ein einziges Farbenmeer, in dem sich schweres Lila mit tristem Grau mischt und das dunkle Rot aussichtslos versucht, gegen die schleichende Dunkelheit anzukämpfen. Ich stehe auf der Brücke und weiß, was in wenigen Minuten an jener Stelle, an der ich soeben vorbei gegangen bin, geschehen wird. Ich habe sie wiedererkannt: Das rostige Eisen, das im sanften Licht der Straßenlaterne golden schimmert, die rote Lackspur, die das Geländer ziert, der bröckelnde Asphalt des Fußweges. Die Geräusche der Autos. Das Rauschen des Flusses unter ihr. Nein, es gibt keinen Zweifel. Kein Entkommen. Wie gerne würde ich davor weg laufen.

 

Was vom Himmel fällt, als ich vom Bürgersteig auf die Straße trete, ist eine Mischung aus Regen und Schnee. Ich spüre, wie die kalte Abendluft widerwärtig in meinen Körper dringt, meine Fingerspitzen betäubt und langsam die Arme hinaufkriecht. Höher und höher. Unaufhaltsam. An das Kribbeln meiner Haut habe ich mich schon lange gewöhnt. Doch jetzt scheint es meinen Körper vollkommen gefangen zu halten.

Ich weiß bereits, dass meine Kette nicht mehr da ist, während ich mit tauben Fingern meinen Hals abtaste, in der Hoffnung, mich nur dieses eine Mal zu irren; doch ich werde wieder enttäuscht. Sie ist weg. Verloren.

 

Tu es! Ich versuche die Worte zu ignorieren und blicke zurück. Ein banges Gefühl in meinem Bauch breitet sich aus und hält meinen Atem fest umklammert. Tu es! Doch die Stimmen in meinem Kopf werden lauter; sie brüllen mich an, möglicherweise in der Hoffnung, mich doch noch umstimmen zu können.

In meinem bisherigen Leben hatte ich immer die Kraft aufbringen können, gegen sie anzukämpfen. Wie wird es heute sein? Tu es!

 

Ich weiß nicht, ob es Einbildung ist, oder ob mein Gehirn mir in diesem Moment falsche Signale sendet. Alles scheint so unwirklich. Am anderen Ende der Brücke kann ich ihre Schritte hören. Sie ist noch viel zu weit entfernt.

 

Jetzt. Jetzt sollte ich eigentlich losgehen – Tu es! Es ist dir vorbestimmt. - doch ich bleibe stehen. Ein Kälteschauer rinnt über meinen Rücken, ich fühle mich benommen.

 

Ich kann sie sehen. Sie ist jung. Sie ist hübsch. Ich weiß nichts von ihr, weder ihren Namen noch was sie an diesem Abend vorhat. Doch ihre Schritte spiegeln die sichtlich gute Laune der Frau wieder, ihre braunen Haare wehen im Wind. Auch wenn ich es nicht will und alles in mir aufschreit, bleibe ich versteinert stehen, meine Entscheidung bereits getroffen, meine Angst zu groß.

 

Ein Auto fährt an mir vorbei. Das stechende Schwarz der Motorhaube versetzt mir einen Stich ins Herz. Übelkeit steigt in mir auf. Ich sehe das Blut – mein Blut – das langsam über den Lack auf den Boden fließt. Für einen Moment atme ich nicht. Ich spüre den kalten Schweiß auf meiner Stirn, während ich in die Richtung starre, in der die Frau jene Stelle erreicht, von der ich geträumt habe. In Gedanken sehe ich die nächtlichen Bilder wieder vor mir, wie ich die Frau zur Seite stoße; ich höre ihren Schrei; ich spüre, wie der Wagen meinen Körper erfasst, ihn in die Luft schleudert, während quietschende Reifen die Stille durchschneiden. So ist es vorbestimmt.

 

Ich kann nicht wegsehen. Es zieht mich in seinen Bann. Ich stehe hier, zwanzig Meter entfernt und habe das Gefühl in Ohnmacht zu fallen. Zu spät. Ich werde die fremde Frau nicht mehr wegstoßen können. Der Fahrer verliert bereits die Kontrolle, das Auto schleudert, es dreht sich; ein dumpfer Knall ist zu hören, ein Schrei, schmerzerfüllt; das Auto erfasst sie frontal, ihr Körper wirbelt durch die Luft. Das Klirren von berstendem Glas und das Scheppern von Metall durchschneiden die unwirkliche Stille.

 

Die Straßenlaterne flackert. Ein Bild blitzt in mir auf, untrüglich, als sei es eine Erinnerung, während ich mir sicher bin, das Gesehene nicht in Wirklichkeit erlebt zu haben: Menschen in schwarzer Kleidung, traurige Gesichter, weiße Rosen, die auf mich herunterfallen. Einen Lidschlag später ist es weggewischt, und ich blicke wieder auf die Zerstörung.

 

Langsam, mit der Gewissheit, nicht mehr helfen zu können, gehe ich hinüber zu der Stelle, an der die Frau liegt. Ich fühle mich seltsam schwerelos, als wäre ich meilenweit entfernt. Doch der Anblick ihres seltsam verdrehten Körpers und dem blutbesudelten Asphalt reißen mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Ihre Augen sehen mich vorwurfsvoll an. Sie ist tot.

 

Ich lebe. Doch das Gefühl der Schuld lähmt meinen Körper, und wieder scheint ein Stück von mir ausgelöscht. Ich lebe. Noch immer. Weil ich es vorhergesehen habe. Sind meine Träume nun eine Gabe, oder sind sie ein Fluch?

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann es angefangen hat. Vor zwei Jahren aber habe ich begonnen, meine Träume, die so realistisch und wirklichkeitsnah waren, dass ich jede Nacht schweißgebadet aufschreckte, in einem Tagebuch festzuhalten und die nächtlichen Erinnerungen mit der Wirklichkeit abzugleichen. Zunächst empfand ich alles harmlos. Ich träumte von herabfallenden Dachziegeln und mied an jenem Tag die Straßenseite, in der es geschehen sollte. Ich beobachtete in sicherer Entfernung, wie die Ziegel auf der Straße zerschellten. Ich träumte von spiegelglatten Straßen und ging am nächsten Tag zu Fuß. Orte, die ich in meinen Träumen sah, mied ich. Und entkam somit der Gefahr. Entkam meinem eigenen Tod. Mein Leben auf der Flucht hatte begonnen. Doch die Angst blieb mein ständiger Begleiter, in der Nacht, wie auch am Tag.

 

Am ganzen Körper zitternd, lehne ich mich gegen das Brückengeländer. Ich schlucke trocken, versuche die Angst, die mich einmal mehr zu überwältigen droht, zu unterdrücken. Doch es will mir nicht gelingen. Langsam drehe ich mich um. Eine Lichtspiegelung weist mir den Weg. Ungeachtet der Splitter, die unter meinen Füßen knirschen, gehe ich die wenigen Meter hinüber, lasse mich dort auf die Knie sinken. Vor mir liegt die Kette. Meine Halskette. Sie liegt an jener Stelle, an der ich hätte stehen sollen; an der ich die Frau retten und selber den Schatten begegnen sollte. In jenem Moment spüre ich die Macht, sie ist mir nahe, näher als jemals zuvor. Panik schleicht durch meinen Körper, doch ich zwinge mich zur Ruhe.

Als ich die Kette aufhebe, sehe ich es: das Blut auf dem Asphalt – eine klebrige, braunrote Masse - die Spritzer ergeben plötzlich einen Sinn. Tu es! Mir wird schwindelig; ich richte mich schwankend auf und stolpere panisch davon. Tu es! Die Worte sind einem Flüstern gleich, leise, aber deutlich zu verstehen. Es gibt kein Entkommen! Ich renne, so schnell meine Füße mich tragen können, die Halskette fest in meiner Hand. Angst umklammert meine Seele.

 

Atemlos komme ich zu Hause an. Ich lasse mich mit zitternden Knien in den Sessel sinken. Noch immer rauscht das Blut in meinen Ohren, meine Stirn pocht, noch immer will sich mein Puls nicht beruhigen. Wie Nebelfetzen ziehen Bilder an mir vorüber und verlieren sich im Nichts.

Ich greife zur Flasche, schenke mir ein Glas ein. Der Rotwein schimmert wie Blut. Ich trinke ihn in einem Zug leer und schenke nach. Wieder und wieder. Langsam lässt die Angst nach.

 

Die Frau ist für dich gestorben. Die Fassungslosigkeit, diesen Gedanken zu Ende gedacht zu haben, lässt mich aufstehen und zum Fenster gehen. Ich schiebe die Gardine zur Seite und blicke in die dunkle Nacht hinaus. Draußen zieht Nebel auf. Ich hätte sie retten können, doch die Angst vor meinem eigenen Tod war zu groß, ja, sie war viel zu mächtig gewesen.

 

Eine merkwürdige Hitze kriecht durch meinen Körper, obwohl ich gleichzeitig friere. Ich schließe die Augen und lehne die Stirn gegen die kühlende Scheibe. Als ich die Augen wieder öffne, ist der Nebel verschwunden. Doch mit Blut geschriebene Worte schänden das Fensterglas, das mir die Sicht nach draußen verwehrt. Erschrocken weiche ich zurück, stoße gegen einen Stuhl, der polternd zu Boden fällt. Ich starre auf die schwarze Scheibe. Tu es!

Die Buchstaben verlieren sich, werden blasser und verschwinden letztlich ganz. Doch die wallende Panik weicht nicht mehr aus meinem Körper und reißt mich mit. Ich werde verrückt vor Angst. Und in diesem Augenblick weiß ich, dass ich keine Wahl mehr habe. Wenn ich diese Nacht zur Ruhe kommen will, brauche ich meine Beruhigungspillen. Meine bebenden Finger machen es mir nicht leicht, meine Tasche zu durchsuchen. Ich verliere die Geduld und kippe den Inhalt vor mir auf den Tisch. Das Knistern der Medikamentenpackung lässt mich aufatmen. Tu es!

 

Ich werde ruhig. Trinke ein letztes Glas Wein und lege mich ins Bett. Das samtweiche Laken umhüllt meinen Körper. Lässt mich schweben. Alles dreht sich. Die Enge in meiner Brust löst sich, das Zittern hört auf. Endlich kann ich frei atmen.

Als ich allmählich das Bewusstsein verliere und immer tiefer und tiefer in die Schläfrigkeit abgleite, kommt mir der Gedanke, dass dies endgültig sein könnte. Dass genau diese Kombination aus Alkohol und Tabletten mein Leben beenden könnte, während ich meinen Tod träume; unfähig, mich dagegen zu wehren. Die Frau ist umsonst gestorben. Tu es!, dröhnt es in meinen Ohren und ich schlafe ein.