Raphael

 

 

DER KLEINE WEIHNACHTSSTERN

Ein Wintermärchen


Die Eiskristalle glitzerten zauberhaft an den weitverzweigten Ästen der hohen Buche, legten sich wie ein weißer Schleier über die Rinde und funkelten im hellen Mondschein. Es war eine jener Winternächte, wie es sie immer wieder am Ende eines jeden Jahres gab, klirrend kalt und wunderschön. Die Landschaft, die Raphael von oben betrachtete, ermöglichte ihm einen weiten Blick über Felder und Wälder, über Hügel und Täler, bis hin zu einem Markplatz inmitten einer kleinen Stadt.

 

Raphael liebte diese Nächte. Wenn es dunkel war und still; wenn die Luft so klar und kalt war, dass sein Atem merkwürdige kleine Wölkchen in den Himmel malte, ja, dann strahlte auch sein Himmelskörper in vollem Glanz. Dann fand er sich hübsch. Und was das wichtigste war: In diesen Nächten erkannten ihn auch die großen und sogar die prächtigsten Sterne am Himmelszelt. Denn im Vergleich zu den anderen, war er ziemlich klein. Fast winzig. So winzig wie die kleinen Menschenkinder, die er heimlich von seinem erhobenen Platz aus, beobachtete. Und in vielen Nächten und Tagen fühlte er sich einsam, weil sie ihn einfach übersahen. Die großen Sterne nahmen keine Notiz von ihm, niemand redete mit ihm. Und mit dem aufkommenden Tageslicht verschwand er beinahe ganz.

 

Die Einsamkeit machte Raphael traurig. Und wenn er traurig war, liefen ihm kleine Tränchenkristalle über die Wangen und tropften hinunter auf die Erde. Die Wolken versuchten ihn dann jedes Mal zu trösten, flüsterten ihm nette Worte zu oder streichelten zärtlich über seinen Kopf, wenn sie vorüberzogen. Oft hörte er den Satz „Nicht traurig sein, kleiner Stern. Nicht traurig sein!“. Und manchmal halfen die tröstenden Worte, aber eben nicht immer.

 

In diesen Stunden beobachtete er heimlich die Menschen auf der Erde und erfreute sich am glücklichen Kinderlachen. Jedes Kinderlachen machte ihn wieder ein klein wenig fröhlicher.

 

Eines Tages blieb eine dicke weiße Wolke an ihm hängen, eine ganze Nacht lang, vielleicht noch länger. Sie unterhielten sich über Dieses und Jenes, über den Himmel und die Erde, über die Sternenkinder und die Menschenkinder. Endlich konnte Raphael all seine Erlebnisse erzählen. Er redete und redete und strahlte dabei in einem herrlichen Licht. Am Ende nickte die weit gereiste Wolke wissend und sprach mit erfahrener Stimme zu ihm:

 

„Raphael. Du bist vielleicht kleiner als all die anderen Sterne, aber DU bist etwas ganz besonderes. Du kannst in die Herzen der Menschenkinder blicken, du fühlst das Wunderbare dieser Welt. Bewahre dir diese Fähigkeit und du wirst für immer reich sein.“

 

Dann zog die Wolke weiter. Raphael blickte ihr lange hinterher und während sie am Horizont immer kleiner und kleiner wurde und dann vollends verschwand, überlegte er fieberhaft, was genau die Wolke ihm mit den Worten hatte sagen wollen.

 

Tage vergingen, Nächte vergingen. Es wurde hell und es wurde dunkel. Viele Male. Raphael hatte die Worte der alten Wolke schon beinahe vergessen, als er an diesem wunderschönen Winterabend wieder einmal seinen Blick über die Täler und Berge schweifen ließ.

Doch da, was war das? Etwas zog seinen Blick magisch an. Eine Stadt, ein Marktplatz, ein Haus mit einem hell erleuchteten Fenster. Hinter der Scheibe stand ein Mädchen mit lustigen roten Haaren und es sah aus, als lächelte es ihm entgegen. Neugierig sah er näher hin …

 

*****

 

Lisa saß an der Fensterbank und rieb sich müde die Augen. Es war längst Schlafenszeit und ihre Mutter hatte sie schon mehrmals aufgefordert, endlich ins Bett zu gehen und das Licht zu löschen. Doch Lisa wollte unbedingt noch ihren Wunschzettel fertig schreiben. Schließlich war bald Weihnachten.

 

Raphael lächelte. Wunschzettel schreiben, das kannte er schon. Die Menschenkinder taten das immer kurz vor Weihnachten, um dem Christkind oder dem Weihnachtsmann, woran dieses Kind auch immer glaubte, mitzuteilen, was sie gerne als Geschenk bekommen würden. Eine Puppe, eine Eisenbahn, Computerspiele, Malstifte, ein Kätzchen. Es waren fast immer die gleichen Wünsche.

 

Was Lisa wohl auf ihren Zettel schrieb? Raphael musste ganz genau hinsehen, um es lesen zu können. Er kniff die Augen zusammen und entzifferte …

 

Ich wünsche mir für Weihnachten ein ganz großes Fest mit all meinen Freunden.

 

… Oh, was war denn das? Ein merkwürdiger Wunsch, dachte sich Raphael. Das kleine Mädchen wünschte sich ein Fest mit ihren Freunden? Sonderbar. Wunderbar. Raphael spürte sofort: Lisa war etwas ganz besonderes.

 

Fortan ließ Raphael die kleine Lisa nicht mehr aus den Augen. Ihr Gesicht strahlte, als sie am nächsten Morgen durch ihr Zimmer hüpfte und erste Vorbereitungen traf. Ihre Wangen waren vor Vorfreude und Begeisterung ganz rot geworden. Gut, sie hatte sich das Fest gewünscht, aber um keinerlei Risiko einzugehen, nahm sie die Planung lieber selber in die Hand. Sicher war schließlich sicher, und das Christkind hatte um diese Jahreszeit bestimmt sooo viel zu tun, dass ein wenig Hilfe nicht schaden konnte.

Sie setzte ihre kleine Puppe auf das Fensterbrett. „Also dann, Puppe, lass uns mal überlegen, was wir für das Fest brauchen. Wir brauchen Einladungskarten, viele Plätzchen, Kinderpunsch. Puh, da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu. Alle sollen schließlich kommen, wirklich ALLE.“ Sie zählte an ihren Fingern ab. „Samuel, Natasha, Onkel Gregor mit Zottel, Tante Marie. Und Mama, Papa, Oma.“ Sie blickte beeindruckt auf ihre Finger. „Wow, das sind aber viele.“ Sie nickte Puppe kurz zu und stürzte rüber zum Schreibtisch.

 

Zwei Stunden später waren sie fertig. Die selbstgebastelten Einladungskarten. Mit einem stolzen Lächeln hielt sie die Karten in die Höhe und betrachtete ihre Bastelarbeit. Sie waren wirklich wunderschön geworden; verziert mit silbernen und goldenen Sternchen auf rotem und grünem Papier. Und innen drin stand mit ihrer allerschönsten Schrift ‚EINLADUNG zum Weihnachtsfest, am 24. Dezember. Wir treffen uns nach der Kirche auf dem Marktplatz unter dem Tannenbaum. Eure Lisa.‘

 

Schnell steckte sie die Karten in Kuverts. Die Unordnung auf ihrem Schreibtisch ignorierte sie gekonnt, aufräumen konnte sie später immer noch. Jetzt musste sie erst mal los.

 

Wenig später sah Raphael die kleine Lisa dick eingepackt durch die Straßen stapfen. Sie lief über die Wiese, vorbei an der Schule, winkte von weitem einen Mann zu, den Raphael nicht kannte, hüpfte in eine tiefe Pfütze hinein, die vom Regen der letzten Tage übrig geblieben war und verzog gleich darauf das Gesicht, als sie bemerkte, dass das wohl keine besonders gute Idee gewesen war. Jetzt war ihre schöne neue Schneehose mit hässlichen kleinen Sprenkeln übersät. Selbst auf ihrer Nasenspitze hatte Lisa kleine Punkte und es sah einfach zu komisch aus, als das Mädchen auf ihre gerümpfte Nase schielte und dabei eine lustige Grimasse zog. Raphael musste lachen.

 

„Hey Lisa.“ Eine fremde Kinderstimme weckte Raphaels Aufmerksamkeit. Ein weiteres Mädchen lief die Straße entlang und winkte schon aus der Ferne. „Lisa, Lisa, warte, ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“

 

Neugierig lauschte Raphael.

 

„Warte Tashi, gleich!“ Lisa rieb sich den Dreck von ihrer Nase. Dann kramte sie kurz in ihrer Tasche und streckte schließlich dem anderen Mädchen mit den lustigen schwarzen Zöpfen ein Kuvert entgegen.

 

„Was ist das?“ Tashi legte den Kopf etwas schief und öffnete die Karte. Raphael schmunzelte als er sah, wie Lisa fast vor Spannung platzte und es letztlich nicht aushielt, zu warten, bis ihre Freundin die Buchstaben entziffert hatte.

 

„Eine Einladungskarte“, stieß sie hervor und ihre Wangen glühten vor Stolz. „Für ein gemeinsames Weihnachtsfest. Alle sollen kommen.“

 

Raphael hielt die Luft an und wartete, ebenso wie Lisa, auf das fröhliche Gesicht des Kindes, das soeben von dem geplanten Fest erfahren hatte. Doch was war das? Raphael stutzte. Natasha freute sich ja gar nicht. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte richtig traurig.

 

„Es tut mir leid, aber ich kann nicht kommen. Wir waren gerade im Reisebüro. Wir fliegen über Weihnachten nach Marokko. Meine Mama sagt, sie hat dieses Jahr keine Lust auf Weihnachtsstress und möchte die Tage endlich einmal genießen.“

 

Der kleine Stern sah Lisas Enttäuschung. Traurig senkte sie den Kopf und murmelte ein leises „Schade“ in ihren Schal. Es tat ihm weh, sie so niedergedrückt zu sehen. „Schade“, flüsterte auch er. Aber es gab ja zum Glück noch viele andere Menschen, die Lisa einladen wollte. Bald schon würde sie wieder fröhlich sein und lachen. Schon bald. Bestimmt!

 

Wenig später klingelte Lisa an einer Tür. Der Rahmen war schon weihnachtlich geschmückt, mit kleinen Engelchen und glitzernden Kugeln. Wunderschön. Von drinnen war Hundegebell zu hören und der kleine Stern zuckte erschrocken zusammen. Ein Hund? Oh weh, hoffentlich wurde das nicht zu gefährlich für die kleine Lisa.

 

Die Tür öffnete sich und noch bevor Raphael den Menschen dahinter sehen konnte, drückte sich der Hund ungestüm durch den Spalt und sprang an Lisa hoch.

 

„Hallo Zottel, mein Guter.“ Lisa lachte und streichelte durch das lange Fell, während der Hund ungehalten durch das Kindergesicht schleckte, sich dann vor dem Mädchen auf den Rücken warf und alle viere von sich streckte. Lisa kraulte den Hund am Bauch und vergaß für einen Moment, wieso sie eigentlich hier war. Doch dann blickte sie auf. „Hallo Onkel Gregor. Ich wollte euch nur eine Einladungskarte vorbeibringen.“ Sie streckte ihm ein Kuvert entgegen, das nun durch die wilde Begrüßung des Tieres ein wenig verknittert war.

 

„Eine Einladungskarte?“, fragte Onkel Gregor neugierig und öffnete den Umschlag. Gespannt blickte Raphael auf die Erde. Jetzt! Der Onkel würde sicherlich zusagen. „Oh, zu Weihnachten?“ Onkel Gregor las die Zeilen und räusperte sich. So, als ob er nicht genau wüsste, was er sagen sollte. „Das hast du aber schön gebastelt, Lisa. Da hast du dir aber sehr viel Mühe gemacht!“

 

„Und, kommt ihr?“ Lisa strahlte ihren Onkel gespannt an. Doch zeitgleich mit Raphael bemerkte sie, dass Onkel Gregor ihr wohl auch keine positive Antwort geben würde – und genau so kam es auch.

 

„Tante Marie, Zottel und ich fahren an Weihnachten nach Friedensdorf. Dort wohnen Maries Eltern, wir wollten dieses Jahr mit ihnen Heilig Abend feiern.“

 

Lisa verzog die Lippen zu einer Schnute. „Mist“, platzte es aus ihr heraus. „Das ist doch alles großer MIST.“ Wütend stampfte sie mit dem rechten Fuß auf und drehte sich wortlos um. Zum Abschied hob sie lediglich traurig die Hand und winkte ihrem Onkel zu. Während sie die Straße entlang lief, murmelte sie für Raphael unverständliche Worte. Er musste ganz genau hinhören, um überhaupt etwas verstehen zu können. „Natasha kann nicht, Onkel Gregor, Tante Marie und Zottel können nicht. Aber ich will doch ein großes Weihnachtsfest. Mist, Mist, Mist.“

 

Traurig und enttäuscht stiefelte das Mädchen über den Marktplatz, an der kleine Kirche vorbei auf den Spielplatz. Seufzend setzte sie sich auf eine Schaukel. Jetzt blieben nur noch Samuel, Mama und Papa. Aber immerhin. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. Es würde trotzdem ein großes Fest werden, denn Samuel hatte ja viele Geschwister, Onkels und Tanten. Lisa war sich jetzt wieder ganz sicher: Ihr Wunsch würde in Erfüllung gehen!

 

Neuen Mut geschöpft, rannte sie los. Samuel, ihr bester Freund, wohnte gleich um die Ecke und noch bevor sie an der Tür klingeln konnte, rief ihr Freund, der oben aus dem Fenster sah, ihr zu. „Hallo Lisa. Du hast es ja eilig. Willst du zu mir?“

 

Seine Freundin nickte und winkte. „Ich habe eine Einladung für dich“, schrie sie laut. „Für ein ganz tolles Weihnachtsfest. Ihr müsst alle kommen.“

 

Raphael strahlte mit Lisa um die Wette. Aufgeregt beobachtete er Samuels Reaktion. Doch der freute sich nicht. Nein?! Der Junge schüttelte den Kopf. Aber warum denn bloß?

 

„Aber Lisa, wir feiern doch gar kein Weihnachten“, erklärte Samuel. „Da wo wir her kommen, gibt es das Fest nicht.“ Er lächelte seiner Freundin traurig entgegen. „Dein Weihnachtsfest musst du leider ohne uns feiern.“

 

Was? Wie bitte? Nein! Das konnte, das durfte einfach nicht sein. Auch Samuel wollte nicht kommen? Raphael hielt den Atem an und spürte wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, während Lisa mit einem Mal ganz still wurde, ihre Einladungskarte auf den Boden fallen ließ und ohne einen Abschiedsgruß wegrannte. Raphael konnte es nicht genau erkennen und war sich auch nicht sicher, aber er glaubte, auch Tränen auf Lisa Wangen gesehen zu haben.  

 

Dieses Jahr schien Lisas Wunsch nicht in Erfüllung zu gehen. Nein, es kam sogar noch schlimmer. Am nächsten Morgen erfuhr Lisa, dass ihr Papa an Heilig Abend arbeiten musste und sie nur mit Mama und Oma Lisbeth Weihnachten feiern sollte. Weihnachten ohne Papa? Weihnachten ohne Onkel Gregor, Tante Marie und Zottel? Weihnachten ohne Samuel und ohne Natasha? Nein! Jetzt hatte sie auch keine Lust mehr! Weihnachten war blöd! Einfach nur blöd! Missmutig verpackte sie die bereits gebackenen Plätzchen in Dosen und Tüten und verstaute sie in der hintersten Ecke der Vorratskammer. Ebenso die Flaschen mit Kinderpunsch, die sie schon Tage zuvor von ihrem gesparten Taschengeld im Supermarkt besorgt hatte. Lisa wollte nix mehr davon sehen. Von ihr aus konnte Weihnachten dieses Jahr einfach ausfallen.

 

Raphael war ebenfalls sehr traurig. Er war verzweifelt, weil er einfach nicht wusste, wie er Lisa helfen konnte. Er hätte sie so gerne glücklich gemacht, ihr die Freude auf Weihnachten wiedergegeben. Er wollte so gerne das strahlende Kinderlachen zurück, an dem er sich nicht satt sehen konnte. In seiner Not vertraute er sich spät am Abend einer kleinen Wolke an und dabei kam Raphael eine Idee. Ja, je länger er darüber nachdachte, desto mehr glaubte er, dass es funktionieren könnte. Leise flüsterte er der Wolke seinen Plan ins Ohr.

 

*****

 

Einen Tag vor Weihnachten geschah es. Die Wolke kehrte zurück, zwinkerte Raphael zu und dann fing es plötzlich an zu schneien, die ganze Nacht, den ganzen Tag, Stunde um Stunde, ja, ununterbrochen rieselten große Flocken auf die Erde nieder.

Raphael blickte den Schneeflocken nach, betrachtete mit zunehmendem Wohlwollen, die immer weißer werdende Landschaft. 1 cm, 5 cm, 10 cm, 40 cm, einen halben Meter. Die Welt versank zunehmend im Schnee. Und während es draußen immer stiller wurde, setzte an anderen Orten das Chaos ein. Am Flughafen wurden nach und nach alle Flüge abgesagt. Züge blieben auf freier Strecke stecken, andere fuhren erst gar nicht mehr los. Mit dem Auto kam man nicht mehr voran.

 

Natasha konnte mit ihrer Familie nicht in den Süden fliegen. Onkel Gregor, Tante Marie und Zottel warteten vergeblich auf ihren Zug. Lisas Papa gab nach hunderten Versuchen, das Auto freizuschaufeln, schließlich völlig entnervt auf. Die Menschen fluchten und waren entsetzt. Alle! Doch halt, stimmte das? Wirklich alle?

 

Raphael blickte auf die Erde und sah zu dem kleinen Fenster, durch das er vor ein paar Wochen Lisa beobachtet hatte, wie sie ihren Wunschzettel schrieb. Sah, wie sie auch heute, wie damals, mit roten Backen an ihrem Schreibtisch saß. Er sah ein verschmitztes Lächeln in ihrem Gesicht und konnte erkennen, dass das Leuchten in ihren Augen zurückkehrt war. Was konnte sie bloß vorhaben?

 

Wenig später beobachtete Raphael, wie Lisa heimlich das Haus verließ, ihren Schlitten mit geheimnisvollen Tüten belud und in Richtung Marktplatz aufbrach. Unter dem hübsch geschmückten Tannenbaum blieb sie atemlos stehen und blickte hinauf in den Himmel und ganz kurz – nur für einen Augenblick lang – hatte Raphael das Gefühl, dass Lisa ihm direkt in die Augen schaute. Mit einem Schlag hatte es aufgehört zu schneien, die dicken Wolken hatten sich verzogen und ein wunderschöner Sternenhimmel beleuchtete stattdessen das Dorf. Der Schnee glitzerte und funkelte wie die Sterne am Himmel. Es war wunderschön, es war einfach perfekt. Genauso hatte es sich Lisa gewünscht. Zufrieden stellte sich das Mädchen in die Mitte des Markplatzes und schrie: „Fröhliche Weihnachten.“

 

Lisas Eltern kamen mit Oma Lisbeth um die Ecke, Onkel Gregor, Tante Marie und Zottel folgten ihnen. Natasha zog ihre Eltern hinter sich her und winkte schon von weitem. Fremde Leute, die Lisa gar nicht eingeladen hatte, kamen aus ihren Häusern und gesellten sich zu ihnen. Alle redeten durcheinander und miteinander und wünschten sich frohe Weihnachten. Wohin Lisa auch blickte, sah sie in zufriedene Gesichter.

 

„Hallo Lisa“, erklang da plötzlich noch eine Stimme. Raphael riss erstaunt die Augen auf. Die Stimme kannte er doch schon. Das war doch …

 

„Samuel“ Glücklich fiel Lisa in die Arme ihres besten Freundes. „Wie schön, dass du da bist.“

 

„Nun ja…“ Samuel zuckte mit den Schultern. „…wir feiern zwar kein Weihnachten, aber meine Familie ist der Meinung, eine Schneeparty ist vollkommen in Ordnung. Guck, sie sind alle mitgekommen.“

 

Lisa drehte sich im Kreis. Einmal, zweimal, dreimal wirbelte sie herum. Sie war so glücklich. Alle waren da! Es war das größte Fest aller Zeiten. Es war ihr Weihnachtsfest! Ihr Wunsch war doch noch in Erfüllung gegangen. Und während die Menschen auf dem Marktplatz Punsch tranken, Plätzchen naschten, sich unterhielten, zufrieden lachten und einfach nur glücklich waren, zusammen zu sein, schloss Lisa die Augen. „Danke“, murmelte sie leise und hörte von weitem eine himmlische, ja beinahe sternenklare Stimme: „Fröhliche Weihnacht überall, tönet durch die Lüfte froher Schall.“

 

Der kleine Stern sang so laut und so herzzerreißend schön, dass alle anderen Sterne auf ihn aufmerksam wurden und fragten, was denn los sei. Raphael erzählte ihnen seine Geschichte, von Lisas Wunsch, der zunächst nicht in Erfüllung gehen sollte, von seiner Idee und seinem Plan, von der Wolke, die ihm versprochen hatte, an Heilig Abend zurückzukehren und ganz viel Schnee mitzubringen. Und In dieser Nacht und in den Nächten darauf, leuchtete ein Stern ganz besonders hell. Unser Raphael, der kleine Weihnachtsstern. Nie wieder übersahen ihn die anderen und selbst wenn er einmal nicht so stark leuchtete, wussten die anderen ihn an ihrer Seite. Raphael hatte seinen Platz am Himmel gefunden und seit Lisas großem Weihnachtsfest war er nie wieder einsam gewesen.

 

*****

 

Raphael leuchtet ausnahmslos jede Nacht. Doch jedes Jahr zu Weihnachten, hüllt sich sein kleiner Himmelskörper in einen ganz besonderen festlichen Schimmer.

Und wenn auch du am Heiligen Abend aus dem Fenster blickst, nach oben in den Sternenhimmel, und in diesem Moment fest an die Leute denkst, mit denen du heute nicht Weihnachten feiern kannst, einfach weil es normal ist, unterschiedliche Wege zu gehen, so sind wir dann doch zumindest im Herzen alle vereint.

 

Ich wünsche dir von ganzem Herzen Frohe Weihnachten und einen guten Start ins neue Jahr.


smiley

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Raphael hat sein eigenes Gästebuch und er freut sich riesig, wenn du ihm etwas schreibst ;)

 

Raphaels Gästebuch